Ländliches

Wenn mein Vater mal wieder meine Latein-Kenntnisse testen wollte, sollte ich ihm stante pede, unisono, ex cathedra et sine ira et studio die Wendung eo rus erklären. Damals konnte ich das, heute kann ich das nicht mehr; eo ist irgendeine abartige Konjugation des Verbs ire, gehen. Bei rus weiß ich noch, dass es etwas zu tun hat mit ländlicher Umgebung. Kurz, die Übersetzung lautet: Ich gehe aufs Land. Ein Episödchen über diese ω Wendung lesen Sie hier – für den Fall, dass Sie beim ersten postcovidianischen Stehempfang glänzen wollen.

Diese Vater-Episode fiel mir ein, als mich die ARD mit folgender Ankündigung in ihrer Mediathek erfreute.

Die Reportagereihe zeigt die Vielfalt der Menschen in den ruralen Gebieten Norddeutschlands.

Ich hoffe, Sie stutzen ebenfalls.

Ich bin sicher, dass rural als Adjektiv von einer vergleichbar großen Anzahl Menschen verstanden wird, wie es heute Schüler freiwillig in den Latein-Unterricht zieht: gefühlte unter ein Prozent der Zehn- bis Neunzigjährigen. Selbst der Duden weist dieses Wort – Etymologie: ruralis,  ländlich – als bildungssprachlich aus. Das Adjektiv übersetzt?

… rustikal, bauerlich, dörflich, ländlich.

Das war’s schon. Und nun schauen Sie sich mal einen Menschen aus, der Folgendes sagt: Ich fahre in den Sommerferien nie wieder nach Österreich, dort war es mir zu rural. Wahlweise: Ich möchte nicht länger am Prenzlauer Berg wohnen, wir ziehen jetzt ins Rurale. Wahlweise: Diese Kuhfladen stinken aber ziemlich rural. Wahlweise: Diese Kartoffel sehen nicht aus wie Kartoffeln, Fräulein Verkäuferin, sind die wirklich ruralen Ursprungs, kultiviert von echten Menschen aus ruralen Biotopen?

Ja, habt’s noch alle, Altlateinische Rurale Dumpfer, ARD? Einer der erfolgreichsten Zeitschriften dieser Zeit ist das Blatt Landlust. Stellen Sie sich mal vor, die Unterzeile hieße Kolossal kosmopolitan global & anrührend rückgezogen rural.

Jetzt reicht’s, liebe ARD. Das ist Humbug, das ist am völlig am ungeimpften Bürger vorbei.

Und wissen Sie, wie so etwas kommt? Der Redakteur, der für die Betextung verantwortlich ist, kann am Titel der Sendung Landgemacht nichts ändern. Er möchte aber ein zweites „Land“ in der Unterzeile vermeiden, nachdem schon Norddeutschland dort vorkommt. Er sucht Synonyme für ländlich. Ländlich muss das Ableitungswort sein, denn rustikal, almig, bürgersteighochklappiggrünlungig, aldifreisittlich, bäuerlich, waldig, arschderweltlich, abgeschieden oder dörflich sind natürlich viel zu spießig – oder nicht gesellschaftsfähig.

Schaut er also ins kluge Synonym-Wörterbuch und findet das Wort, mit dem mein Vater mich schon getriezt hat.
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In eigener Sache
Liebe deutschmeisterei:innen, genießen Sie noch diesen Beitrag, den vom Donnerstag und vom Freitag ebenfalls. Danach verabschiede ich mich für eine Woche. Das kennen Sie schon: Ich tauche mal wieder in eine harte Arbeitswoche an einem einzigen Krimi ein. Dann folgt eine Woche mit voller Beitrags-Leistung (herrliche Ummodelung des Worts aus dem Versicherungswesen, nicht wahr?). Danach verabschiede ich mich erst mal für zwei Wochen zum Ausruhen. Nach Ostern lesen Sie dann wieder was von mir …

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