Schleier-Fahnung

160715_GegenverkehrEs ist dramatisch. Der Protagonist – in Kreisen derer, die auch Hammer! für einen deutschen Ausdruck der Überfreude halten, kurz Prota genannt – ist erschöpft. Schichtende, er will nach Hause, der Gute. Allein, es regnet. So ein Mist!

Und was macht er? Er raucht. Wie? Kette! Himmelherrgott! Drama! Und nun lesen Sie bitte mal: ... raucht R. – er kann nicht anders – eine Zigarette nach der anderen. Warum steht da … er kann nicht anders …? Hey, wir Raucher sind süchtig. Ja, sind wir. Jeder Raucher kann nicht anders. Und wer eine Zigarette nach der anderen raucht, kann erst recht nicht anders. Könnte man also streichen. Es reichte zu sagen: R. raucht eine Zigarette nach der anderen. Das sagt schon: R. ist hochnervös, er ist angespannt. Er will nach Hause, er hat keinen Bock mehr auf die Autofahrt.

Lesen wir weiter: Aufgeregt schlägt er auf das Lenkrad, als vor ihm ein Schleier auftaucht. Wie stellen wir uns das vor? Er raucht, ist angespannt, es nebelt (dazu gleich mehr) – und unser Hammer-Prota hat nichts Besseres zu tun, als aufs Lenkrad zu schlagen. Rechts die Zigarette, vorn der Nebel, links die freie Hand, oben das Hirn, das auch noch nachdenkt (dazu später mehr).

Und wie steht es mit der Gleichzeitigkeit, die ja die Konjunktion als signalisiert? Aufs Lenkrad schlagen und gleichzeitig taucht der Schleier auf. Wäre während … besser oder nachdem … oder zwei parallele Sätze: aufs Lenkrad schlagen … Schleier auftauchen …? Ich weiß es nicht. Ich klopfe nur mal ein wenig auf den Busch.

Wirklich merkwürdig aber ist, dass das Thema Schleier erst einmal wie eine Bedrohung aufgebaut wird: Nebel? Starker Regen? Eine Muslimin in vollem Ornat? Eine Windhose? Und dann? Nichts ist …

Also, R. wagt keinen Überholversuch, Sicht zu schleierhaft. Oder? Nein, trotz Schleierhaftigkeit ist es nicht allein die Sicht, die R. davon abhält, seinen Ascona 16R zu beschleunigen. Es ist der Gegenverkehr. Und woher kommt der? Himmel, der kommt von vorne. Hätte der Gegenverkehr aber auch mal sagen können, dass der auch bei schlechter Sicht von vorne kommt. In vernünftigen, demokratisch geführten Ländern wie der Türkei kommt der Gegenverkehr ja von hinten. Nur in Ländern wie … ach, lassen wir das!

Lesen wir weiter für alle, die nicht genau wissen, was der Gegenverkehr auslöst. Einen Schleier? Nein, den macht der Zigarettendunst. Oder die Nebelwolke aus Starkregen. Oder die Hand vorm Gesicht beim Verprügeln des Lenkrads. Nein, der Gegenverkehr macht Überholen unmöglich. Und nun kommen Sie! Hammer!, oder?

Nun bin ich schon hochgespannt, rauche eine nach der anderen, ich kann nicht anders, ich Süchtling. Ich erwarte, dass R. etwas zustößt, dass sich aus dem Schleier eine Marien-Erscheinung auftut, mindestens, oder eine Monster oder seine Schwiegereltern – immer ein nettes Topos – oder die niederländische Nationalmannschaft mit dem Europa-Cup in der Hand … oder so was ganz Schlimmes wie Herr Johnson als Außenminister der Briten im Gespräch mit Herrn Trump im Weißen Haus, flankiert von Putin mit Waffe im Anschlag und Erdogan, die Verfassung der Vereinigten Staaten mit grünem(!) Stift korrekturlesend.

Ist alles nichts. R. raucht noch eine und rollt heim. Ich bin enttäuscht. Echt jetzt …

Nachtrag, 20. Juli. Die sehr geschätzte Elsa Rieger, Kollegin aus Wien, macht mich darauf aufmerksam, dass mein Optiker bei ihr angerufen habe. Warum ich meine Brille nicht abhole, fragte er sie. Es ist eine besondere Brille. Sie schafft Durchblick, wo eigentlich ein Schleicher … ähhhh … Schleier vor den Augen wallt. Mann, Mann, Mann! Der Optiker hat recht. Elsa sowieso … Danke! Nach mehr als eintausend Texten, sagte mir dann mein Therapeut, darf so was mal passieren. Aber wie immer gilt: Das Drei-Augen-Prinzip ist besser als jedes andere.

*Anzeige: Die Seite enthält Links zu mehreren Webseiten, auf denen Sie Bücher bestellen können. Hierbei handelt es sich um Werbung. In eigener Sache zwar, aber Werbung bleibt Werbung, weshalb ich Sie an dieser Stelle darauf hinweise.