Was für ein Charakter!

160810_GauckUnser Bundespräsident hat sich, das liegt einen Monat zurück, bei der Trauerfeier für die Opfer des Terrors in München mit einem bemerkenswerten Satz geäußert. Ich darf den zitieren, aus der Zeit, erst einmal nur die Überschrift: Gauck warnt vor Männern mit labilen Charakteren. Der Satz fiel nicht nur einem geneigten Leser auf, er war mir schon damals irgendwie ein Dorn im Auge, ohne dieses Störgefühl begründen zu können. Ich versuche hier mal, mit allem Respekt vor dem Amt, eine Annäherung an das Störgefühl.

Zunächst einmal die Quellenlage. In einer Überschrift darf die Zeitung verkürzen. Die Zeit zitiert aber eben jenen Satz dann im Text …

Da stoßen wir auf junge Männer mit labilen Charakteren, die sich von ihrem Umfeld gedemütigt, ausgegrenzt, nicht angenommen sehen. Oft sitzen sie vor dem Computer auf der Suche nach Vorbildern, die sich an diesem Umfeld mitleidlos rächen und in der medialen Berichterstattung zu trauriger Berühmtheit gelangen.

Gut, man mag darüber denken, was man will. Mir geht es, Sie ahnen es, allein um den Plural von Charakter. Der Duden hilft nicht weiter. Die Pluralbildung Charaktere ist vollkommen in Ordnung. Und dennoch dünkt mich, der Plural Charaktere beziehe sich eher auf etwas anderes, als Gauck hier meint.

Der Duden:  individuelles Gepräge eines Menschen durch ererbte und erworbene Eigenschaften, wie es in seinem Wollen und Handeln zum Ausdruck kommt, lautet die Definition, mit den Beispielen: einen guten, schwierigen Charakter haben – etwas prŠägt, formt den Charakter – [keinen] Charakter haben – sie ist eine Frau von Charakter – das Leben im ewigen Schatten verdirbt das Blut und verschlechtert den Charakter (H. Mann, Stadt 50).

Sie sehen schon, kein Beispiel arbeitet mit einem Plural. Das einzige Beispiel im Duden mit Plural lautet:  die beiden sind gegensäŠtzliche Charaktere … Klar, ein Charakter – ein anderer Charakter, zwei Charaktere.

Und was sind dann die Gauck’schen labilen Charaktere? Sagt man nicht von Schauspielern, sie seien fähig, verschiedene Charaktere darzustellen? Oder spricht man nicht von Brüder im Zwist, deren Charaktere unterschiedlicher nicht sein können?

Ich glaube jetzt, dass das Störgefühl beim Gauck’schen Satz in seiner Ansicht begründet liegt, dass die Männer, die – wie oben beschrieben – eben doch keine unterschiedlichen Charaktere haben, sondern gleiche. Eben einen Charakter, den von Gauck unterstellten: von ihrem Umfeld gedemütigt, ausgegrenzt, nicht angenommen.

Und das Störgefühl löst sich vollends auf, wenn man dem Satz den Plural klaut …

Da stoßen wir auf junge Männer mit labilem Charakter, die sich von ihrem Umfeld gedemütigt, ausgegrenzt, nicht angenommen sehen. Oft sitzen sie vor dem Computer auf der Suche nach Vorbildern, die sich an diesem Umfeld mitleidlos rächen und in der medialen Berichterstattung zu trauriger Berühmtheit gelangen.

So wird ein Schuh draus, so stimmt der Satz.

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