Und noch eine Kurve ins Unverständliche

130919_MRRIch nutze das Bildchen von Marcel Reich-Ranicki nur, weil es so gut passt zu dem, um das es heute geht: um das Feuilleton der FAZ. Einen Nachruf zu schreiben auf den Großen – das ist meine Sache nicht. Ich kann nur kurz erzählen, dass ich mit dem Herrn eine längere Begegnung hatte. Er war schon sehr speziell – und gewiss kein Einfacher. Aber ein Unbeugbarer.

Jedenfalls hätte eine gewisser Herr Stadelmeier Herrn Reich-Ranicki so erlebt wie auf dem Bildchen, wenn die Verhältnisse noch so wären, wie sie mal waren: MRR als Chef des Feuilletons der FAZ, Schreiber Stadelmeier gibt ihm einen Text. Von diesem Text behauptet der Kollege Raue, dessen kluges und lehrreiches Blog ich regelmäßig lese, er enthalte den längsten Satz des Jahres 2013, bisher. Hier ist der Satz, erschienen im Feuilleton im Juni 2013:

Abgesehen davon, dass Jens im Jahr 1998 zu Mozarts „Requiem“ (KV 626) Zwischentexte, Reflexionen schrieb, die den ewigen protestantischen Aufklärer Jens und Auf-Verbesserung-der-Welt-Hoffer als doch etwas leichtfertigen Um- und Gegendeuter und Verharmloser der gewaltigen katholischen Totenmesse zeigt, die das Jüngste Gericht und die Flammen der Verdammnis und die Sühne für alle Sünden und die Gnadenlosigkeit eines Gottes beschwört, bei dem allein die unberechenbare Gnade liegt; abgesehen auch davon, dass Jens im Jahr 2006, als er zur „Reqiem“-Musik seine „Requiem“-Gedanken vortrug, plötzlich das Vermögen, etwas vorzulesen, verließ, er stockte und stotterte und sich so seine Demenz, an der er über die Jahre ohne Sprache und Gedächtnis hinweg verdämmerte, offenbarte; abgesehen auch davon, dass die Stiftskirche, in der einst die Universität Tübingen gegründet wurde und die sozusagen deren erster öffentlicher Raum war, zum Tübinger Öffentlichkeitsspieler- und Nutzer Walter Jens doch wunderbar passt: Es ist ein seltsam Empfinden, wenn jenseits aller Rhetorik und jedes Meinens und Polemisierens und Kritisierens, jedes Forschens und Ergründens und jeder Buchgelehrsamkeit ein Satz in die vollbesetzte Kirche fährt: „Liber scriptus proferetur“ (Und ein Buch wird aufgeschlagen, treu darin ist eingetragen jede Schuld auf Erdentagen), wo sich dann „solvet saeclum in favilla“ (das Weltall sich entzündet) und „quantus tremor est futurus“ (ein Graus wird sein und Zagen).

Das Zählprogramm von Word hat für Raue 208 Wörter gezählt. Ich habe nicht nachgezählt. Aber ich habe den Text – im Gegensatz zu Ihnen – gelesen. Stadelmeier hilft sich mit zwei Doppelpunkten, die ich gefettet habe; und er behilft sich mit einer dreifachen Abgesehen-davon-Konstruktion, von mir gerötet. 

Abgesehen davon ist der Satz eine reine Zumutung. Raue schreibt: Wetten dass der Autor stolz ist auf diesen Satz? Dass er stolz ist, dass ihn nur wenige verstehen? Dass er stolz ist, dass er klüger als alle, die nur kurze Sätze schreiben? Raue hat Recht.

In diesen Zusammenhang passen die Sätze aus Parteiprogrammen, die ebenfalls durchgezählt wurden. Spitzenreiter: Die Linke mit 71 Wörtern. Es sei hier nur kurz erwähnt, dass die Deutsche Presseagentur Sätze mit mehr als 25 bis 30 Wörtern für nicht mehr leserlich erachtet. Mein letzter Satz hatte 23 Wörter. Mein längster Satz in diesem Text: 33 (Beginn des zweiten Absatzes). 71 Wörter versteht niemand. 58 auch nicht.

208 Wörter soll niemand verstehen. Sie sind eine Lese-Verhinderung.

In diesen Zusammenhang passt eine Rezension auf spiegel.de von gestern. Es geht um die Buchpreis-Kandiatin Monika Zeiner. Der Autor schreibt: Der Romantik-Diskurs Zeiners, die gerne lange Thomas-Mann-Sätze schreibt und unbedingt an den (bisweilen ironischen) allwissenden Erzähler glaubt, funktioniert nur, weil es Künstler-Existenzen sind, die pathetisch über das Wesen der Liebe und der Vergänglichkeit räsonieren. (34 Wörter, geht gerade noch). Aber es scheint, als sei das Viele-Wörter-zwischen-zwei-Punkte-Packen nicht ausgestorben.

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