Wütende Synapsen – Weine in „Die Zeit“

Es ist verblüffend. Dieses Beispiel zeigt sehr fein, dass Sprache Grenzen hat – oder die Autoren sind begrenzt von ihren Fähigkeiten, mit Sprache umzugehen. Wir lesen einen Artikel über Wein in der Zeit, hier die Verknüpfung. Eigentlich können der Autor Cornelius Lange und sein Bruder Fabian schreiben. Aber das, was sie beschreiben will, entzieht sich der Sprache.

Erstes Beispiel:
Ein floraler Miniblütenkranz windet sich aus dem Glas und schlängelt sich mit einem ziselierten Fruchtspiel aus Birne und Apfelblüte meiner Nase entgegen. Am Gaumen folgt eine kraftvolle Welle, die die aromatische Potenz des Weines in die Länge zieht. Am Ende spüre ich eine leicht salzige Mineralität, die sich aus dem Geschmacksgeschehen löst. Sie stammt aus dem Muschelkalk und Keuper des Würzburger Steins.

Ich habe nichts verstanden, ich habe keinen Schimmer, wie der Wein schmeckt. Zweites Beispiel:
Sie wird immer seltener, die Scheurebe stirbt langsam aus. Aber den meisten ihrer Weine weine ich keine Träne hinterher. Dieses Exemplar hier ist aber jegliche Gefühlsaufwallung wert: Die Reben haben präzise wie ein Laserstrahl die aromatischen Konturen von Maracuja, Lakritz, Anis, Kamille und sonnengetrocknetem Heu aus dem Muschelkalk gefräst. Der Duft ist ein Abbild idealer Exotik. Jeder Schluck ist mit einer minimalistischen Süße hinterlegt.

Ok, die Scheurebe stirbt aus. Verstanden. Aber wie schmeckte sie denn? Drittes Beispiel:
August Kesseler (ein Winzer, Anmerkung von ML) hat auch einen roten Kopf, das kommt wahrscheinlich daher, dass er heute schon vielen Händlern seine Kollektion eingeschenkt hat. Er vibriert förmlich, fast so wie mein Telefon eben in der Hose. Ein Schluck Riesling passiert meine Lippen, sie werden in diesem Moment zur Schnittstelle zwischen äußerer und innerer Welt. Fabian und Kesseler schauen mich an. Sie wissen längst, was ich erst jetzt begreife.

Die Lippen werden zur Schnittstelle? Gut, dass das keine Schnitt-Stelle ist … Viertes Beispiel:
Diesen Schluck kann ich nicht ausspucken. Er krallt sich in mir fest, windet sich, wütet förmlich an meinen Synapsen mit seiner Informationsdichte, die sich aus strahlender Fruchtsäure und weißen Blüten konfiguriert. Ich schlucke jetzt vorsichtig und Lorch errichtet eine Kathedrale aus rheinischem Schiefergebirge an meinem Gaumen, die sich langsam in Bewegung setzt, abschmilzt und dann wie eine Spur aus Steinsaft in mich hineinfließt. Dieser Riesling ist Verdichtungskunst. Winzige Oberfläche, aber darunter gewaltige Ausmaße, die tief ins Erdinnere weisen. Ein Erdkilometer zum Trinken. 

Ich bin sprachlos. Informationsdichte an den Synapsen – Spur aus Steinsaft – Riesling (Bild: Common Wikis) ist Verdichtungskunst – Ausmaße, die ins Erdinnere weisen … Und nun? Ratlos am Montag.

Und freue mich dann, dass ein Zeit-Leser per Leserbrief zu dem Text dies bemerkt: Der ganze Text klingt unglaublich bemüht. Dabei ist die Übung völlig sinnlos. Geschmacklich vorstellen kann man sich nach der Beschreibung die Weine wohl kaum. Simpler Test: jeweils drei Weine ähnlicher Art in blinden (also etikettenlosen) Flaschen. Davon ist immer einer der beschriebene. Kann sich irgendjemand vorstellen, dass man nach dem Lesen dieses Artikels den beschriebenen identifizieren könnte? 

Ein anderer bringt es so auf den Punkt: Der Text mag dem unbedarften Leser holprig vorkommen, aber für einen Alkoholiker ist das reine Poesie.

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