Wenn Marketender die Wahrheit einhüllen …

Sie stehen am Flughafen, draußen toben 42 Schneestürme, die Rollbahn ist mit einer 13,50 Meter dicken Schnee-Eis-Decke überzogen, und es sind bereits 789 Flüge ausgefallen. Die Relation Mensch pro Quadratmeter ist größer als nach Spielende des Spiels Schalke gegen Dortmund, um die unangenehme Erinnerung an eine Stadt westlich der beiden genannten zu vermeiden. Der kleine Flughafen gleicht dem Nachtlager in der Turnhalle einer Provinz-Volksschule, das Sie als 15-jähriger  Pfadfinder zusammen mit 513 anderen haben teilen müssen. Nach vier Stunden Stehens in der Schlange haben Sie sich endlich zum Schalter vorgewartet. Sie sind sauer. Sie müssen dringend Ihren Urlaub antreten. Rotgesicht machen Sie Ihrem Ärger Luft. Und was sagt Ihnen die ebenfalls rotgesichtige, völlig entnervte Dame von Cathastrophy Airways?

Wir stehen vor insgesamt sehr herausfordernden Umständen, sagt sie.

Nun dürfen Sie die Dame hauen. Sie dürfen sie nicht hauen, weil Sie Ihren Urlaub voraussichtlich nicht werden pünktlich antreten können. Sie dürfen sie hauen, weil sie diesen Satz gesagt hat. Die hat das getan, was immer in solchen Momenten passiert, sie griff zu einem Euphemismus*, zu einer beschönigenden, verklausulierten, verklausulierenden Wendung. Im Deutschen Sprachkompass vom März dieses Jahres habe ich einmal über diese Hüllwörter (ein wunderbares Wort dafür) geschrieben und Beispiele genannt, ich zitiere ein paar daraus und ausnahmsweise mich©:

Entsorgungspark nennt man das, was früher Müllkippe oder Müllhalle hieß.
Wertstoffhof ist nichts anderes als eine Anlage zur Mülltrennung.
Eine Rubensfigur haben richtig Fette – oder man nennt sie vollschlank.
Kollateralschäden ist das Hüllwort für zivile Opfer in Kriegen.
Weiche Ziele sind im Kriegsfall immer Menschen.
Eine Umsiedlung ist meist der Euphemismus für die Vertreibung von Menschen.

Und was bitte hat das Ganze mit dem Ausschnitt aus spiegel.de zu tun, den Sie oben sehen? Ich wollte eine Katastrophensituation beschreiben, die man verstehen kann: den Schneesturm am Flughafen.

In einer ähnlich ausweglosen Situation sind derzeit alte Leute, die dringend einen Grippeimpfstoff benötigen. Die Firma Novartis, als Monopolist auf diesem Feld von den gesetzlichen Krankenkassen ausgerufen und mit einem sicheren Geschäft versehen, schafft es nicht, genügend Impfstoff-Ladungen herbeizubringen. Ist ja auch schwierig: In diesem Jahr kam der Oktober wirklich viel zu früh. Im letzten Jahr gab es nach dem September noch viel mehr Zeit, um den Oktober einzuläuten. Und 1955, 1982, 1990 und 1991 war es auch so, dass nach dem September noch acht bis zehn Wochen lagen bis zum Oktober. Sie erinnern sich nicht mehr?

Ach, ist schon wieder Oktober?

Alte Menschen benötigen dringend den Impfstoff. Der ist nicht lieferbar. Alte Menschen sind, wenn ich das recht verstehe, lebensbedroht – bedroht an Leib und Leben – ohne den Impfstoff. Es kann gefährlich für sie werden.

Und in dieser Situation lässt Novartis verlauten: Man steht vor insgesamt sehr herausfordernden Umständen. Gibt es einen platteren Euphemismus? Gibt es schönere Wörter als eben diese für die Tatsache, dass Novartis total versagt hat. Dass wahrscheinlich ein paar Marketender mit Blick auf ihre Excel-Tabelle versucht haben, noch mehr Geld herauszuholen? Und dann lachen die sich ins Fäustchen, schicken einen hilflosen Pressesprecher auf die Bühne und lassen den einen neuen Euphemismus üben. Der Klartext heißt: Wir schaffen es nicht! Wir haben nichts. Wir werden es auch nicht beschaffen können. Wir haben versagt. Da müssen die Alten durch – auch wenn ein paar verrecken, wird schon nicht so schlimm werden!

Dürfen Sie als Senior nun Novartis mit der Krücke drohen? Ja, dürfen Sie! Das moralische Recht ist auf Ihrer Seite! Keine Gewalt!
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Non scholae … Unterm Strich was fürs Leben
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Besser erklärt dies der Duden: Eu|phe|mis|mus, der; -, men [griechisch euphemism—s, zu: eœphemos = Worte mit guter Vorbedeutung redend, zu: euphemein = gut reden; Unangenehmes mit angenehmen Worten sagen, aus: eu = gut, wohl und phemein = reden, sagen] (bildungssprachlich): beschšönigende, verhüŸllende, mildernde Umschreibung fŸür ein anstšößiges oder unangenehmes Wort: „geistige Umnachtung“ ist ein Euphemismus füŸr „Wahnsinn“.

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